In der Wiege der Menschheit

Für uns war schon letztes Jahr als wir die Türkei durchquerten klar, in den Südosten gehen wir nicht. Die syrische Grenze ist nah. Und der Konflikt zwischen der Türkei und den Kurden spielt sich auch genau dort ab. Nun liegt wieder die ganze Türkei vor uns und wir sind nur mittelmässig motiviert, wieder der Küste des Schwarzen Meeres zu folgen. Aber eben, in den Südosten gehen wir nicht. Dann lernen wir Esra und Jihan kennen. Die beiden sind Lehrer, wohnen in Hopa am Schwarzen Meer und sind herrliche Gastgeber. Wir übernachten bei ihnen und führen – wieder einmal – interessante Gespräche. Und sie finden, wir sollten unbedingt den Südosten bereisen.

Esra und Jihan wohnen erst seit einem Jahr in Hopa. Vorher haben sie drei Jahre lang in Mardin unterrichtet. Als Lehrer kann man die ersten zehn Jahre seinen Arbeitsort nicht selbst auswählen und weil alle im Westen des Landes leben wollen, wird man höchstwahrscheinlich im Osten landen. Oder eben sogar im Südosten. Doch die beiden sind absolut begeistert von Mardin und Umgebung. Und sie sind überzeugt, dass eine Reise dorthin sicher ist. Obwohl die Stadt 20 km von der syrischen Grenze entfernt und mitten im Kurdengebiet liegt.

Wir sind noch nicht ganz überzeugt und fangen am nächsten Tag an zu recherchieren. Esra und Jihan haben uns unzählige Tipps gegeben, wo wir hingehen sollten. Natürlich finden wir viele Reisewarnungen. Aber auch herrliche Bilder. Und auf der App, die alle Langzeitreisenden benutzen um sich über Schlafplätze, Mechaniker und sonst alles mögliche auszutauschen, gibt es Einträge aus den letzten paar Monaten in diesem Gebiet. Ausserdem scheint es im Kurdenkonflikt seit 2016 ruhig zu sein. Wir beschliessen, südwärts zu fahren. Und umzudrehen, falls wir uns nicht mehr wohl fühlen.

Bald verlassen wir das üppige Grün der steilen Teeplantagen an der Küste und die Landschaft wird wieder karger. Doch sonst ändert sich nicht viel. Die Menschen begegnen uns genauso freundlich, wie wir das aus der Türkei bereits kennen. Die Gesellschaft ist sicher konservativ hier; die Frauen tragen lange Kleider und Kopftücher, die Männer das obligate Jacquet und häufig dieses Käppi. Doch auch das kennen wir ja. Sobald wir in kurdischem Gebiet sind, werden die Polizei- und Militärkontrollen häufiger. Allerdings scheinen die Uniformierten sehr entspannt zu sein. Wir zeigen ein paar Mal unsere Pässe, häufig sind die Kontrollen aber gar nicht besetzt. Und wenn die Herren in unser Auto schauen wollen, dann eher aus Neugierde als aus Kontrolleifer.

Wir fühlen uns sicher, wissen aber, dass es hier vor drei Jahren ganz anders gewesen sein muss. In dieser Weltgegend kann sich die Situation schnell ändern und informiert sein lohnt sich wohl. Allerdings hat diese Weltgegend auch wahnsinnig viel zu bieten. Wir finden Seen, Vulkane, orientalische Städte und immer wieder Orte, die uns an die Geschichtsträchtigkeit dieser Gegend erinnern. Als wir den Tigris und ein paar Tage später den Euphrat überqueren wird uns bewusst, dass wir in Mesopotamien sind. Hier sind vor 11’000 Jahren die ersten Menschen sesshaft geworden, hier sind die ersten Zivilisationen entstanden, während die Schweiz noch unter einem dicken Eispanzer schlief.

Und noch etwas wird uns erst hier so richtig bewusst: Die Wiege der Menschheit ist auch die Wiege der Religionen. Juden, Christen und Muslime haben ihre Wurzeln in diesem Gebiet. Alle durchmischt, miteinander, nebeneinander und leider auch gegeneinander. Wir finden eine Kirche, die laut den ortsansässigen Aramäern die älteste überhaupt sei, wir finden die Höhle, in der Abraham (genau, der aus der Bibel) geboren worden sein soll. Heute ist das ein muslimischer Pilgerort. Genau, weil ja auch die Muslime sich auf Abraham als Erzvater berufen. Wir finden den Baum, der aus Moses Wanderstock erwachsen sein soll, wir finden eine Moschee mit den Gräbern christlicher Heiliger im Keller und so weiter und so fort.

Und dann stehen wir eines Abends auf dem Hügel oberhalb von Mardin und schauen in die weite Ebene, die sich im Süden erstreckt. Wir sehen die Felder, die Dörfer und wissen, dort ist Syrien. Nur 20 km entfernt. Die Leute hier sind fast ein bisschen beleidigt, wenn wir sie fragen, ob es denn hier sicher sei. Oder sie lachen uns ein bisschen aus. Natürlich sei es hier sicher, schliesslich sei der Krieg in Syrien, nicht in der Türkei. Sie hätten schliesslich die letzten zehn Jahre auch hier gewohnt. Was wir denn in Europa für Vorsellungen hätten.

Die Flüchtlinge sind immer wieder ein Thema. 3.5 Millionen Syrerinnen und Syrer sind in der Türkei. Und wie das leider meistens so ist mit Vertriebenen, sie sind nicht beliebt dort, wo sie Schutz suchen. Wir bekommen aber erstaunlich wenig davon mit. Und ein Türke meint dann auch zu uns: «Ihr werdet sie nicht erkennen, sie sehen aus wie wir.» Uns schüttelt diese Gegend schon etwas durch. Wir machen uns viele Gedanken, diskutieren, verzweifeln auch etwas, hinterfragen einmal mehr den Luxus, der für uns so selbstverständlich ist. Und merken, dass für die Leute hier der Alltag einfach ganz normal weitergeht.

Und dann überstürzen sich die Ereignisse auf der Weltbühne. Erdogan bereitet eine Militäroffensive gegen die Kurdenmilizen in Nordsyrien vor, Trump zieht die US-Truppen ab, die Welt ist empört und wir fassungslos. Während ich das hier schreibe, warten alle ganz gespannt darauf, wann es losgehen wird. Gerade habe ich eine Reportage gelesen aus einem türkischen Dorf an der Grenze. Die türkischen Truppen seien daran, sich dort «einzugraben», die Anwohner schauten zu. Ich habe den Ort auf der Karte gesucht. Vor zwei Wochen waren wir 20 km von dort entfernt. In dieser Weltgegend kann sich die Situation so schnell ändern.

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