Armenien – Ende Oktober
Irgendwann mussten ja die ersten Ermüdungserscheinungen auftreten. Das eine oder andere war schon länger fällig, vor allem alte Socken oder Tshirts. Bei anderem ist aber schon etwas mehr Lebensdauer zu erwarten, zum Beispiel bei Matilda’s Hinterrad.
Es ist schon etwa ein Monat her, irgendwo in Georgien, da läuteten bei Martina alle Alarmglocken als sich irgendwo im Antrieb ein diskretes Knacken einstellte. Das Knirschen spürte man in den Zehen, doch lokalisieren liess sich die Schadstelle akustisch nicht. Allzu viel Möglichkeiten gibt es für diese Symptome nicht; Tretlager oder Pedallager, und etwas offensichtlicher: Sand und anderen Dreck in den Kränzen und der Kette. Ich diagnostizierte dem Tretlager nach nur 7000 km widerwillig erste Abnutzungserscheinungen. Martina zog daraus den Schluss, dass die ersten Chügeli in den Lagern bereits zermalmt sind, und alle zwei oder drei Kilometer das nächste daran glauben muss. So oder so, da lässt sich nichts machen, und ein klickendes Lager dreht sich noch etliche tausend Kilometer. Martina rechnete damit die nächste Steigung nicht mehr bis oben fahren zu können. Ich sah das etwas entspannter.
Nach ein paar Tagen waren die Geräusche weg, das kurz bevorstehende Ende unserer Reise hatte sich etwas herausgeschoben. Also genossen wir das stetige Auf und Ab der armenischen Berge bis kurz vor der iranischen Grenze – da war es wieder, das Knacken.
Es holpert schon seit einigen hundert Höhenmetern talwärts. Manchmal im Schritttempo, die zu Sowjetzeiten geteerte Strasse ist in tausende Asphaltschollen zersplittert. Velotausch, ich darf das nahende Ende von Matilda am eigenen Leib spüren. Ja, nicht schön. Das Knirschen hängt nicht am Antrieb, der ist bergab ja nicht in Betrieb. Also muss ich meine Diagnose wohl revidieren. Schweren Herzens lokalisiere ich die Auffälligkeit in der hinteren Radnabe. Radlager, Freilauflager, auf jede Fall etwas, dass ich so nicht erwartet habe.
Bei der Veloausstattung dreht sich alles um die Räder; also Nabe, Felge und Speichen. Die ganze Last, das Gepäck und wir selbst, alles kommt auf vier kleinen Kugellagern zu stehen. Jeder Absatz, jedes Schlagloch und jeder Stein auf der Schotterstrasse schlägt auf die Radlager, die sich pro Tag rund 30’000 mal drehen.
Matilda ist mit dem Besten vom Besten ausgerüstet, die Hinterrad-Nabe ist von Chris King, Qualitätsware aus den USA für bescheidene 400$. Das soll jetzt nach 7000 Kilometern echt schon Probleme machen? Unwah
rscheinlich. Aber das Problem lässt sich hier und jetzt nicht lösen, und auch wenn das Lager nicht mehr ganz in Ordnung sein sollte, das Rad dreht sich ohne markerschütternde Laute. Also löse ich das Problem beim nächsten Ruhetag.
Einen Pass später, zehn Kilometer vor der iranischen Grenze quartieren wir uns für drei Nächte in einem Gästehaus ein, endlich Internet, die Ader des Lebens! Demontage-Anleitungen und Service-Manuale bringen Licht ins dunkle Innere der Nabe. Man sollte seine Ausrüstung im Detail kennen, vor allem so zentrale Teile wie die Hinterradnabe! Als ich den Aufbau der Nabe verstanden habe, relativiert sich das Problem, das wahrscheinlich gar keins ist. Der Vorteil dieses Stücks Technik liegt nicht nur in der Robustheit sondern auch in der einfachen Demontage der wichtigsten Bestandteile. Eine normale Nabe lässt sich nicht so einfach mit einem 2.5 mm Inbusschlüssel in Einzelteile zerlegen. Ich bin begeistert! Es ist schon dunkel, Martina ist im Bett, ich hole das Hinterrad ins Zimmer und setze im Licht meiner Stirnlampe den Inbusschlüssel an.
Am nächsten Morgen prüfe ich jedes der vier Kugellager auf Schäden – nichts lässt sich erkennen, kein Verschleiss, alle Kugeln sind noch da. Die Dichtungen der Radlager lassen sich entfernen, das Lager reinigen & fetten, dann setzt man die Dichtung wieder ein. So funktioniert Langlebigkeit und Servicefreundlichkeit! Der Freilauf kann mit ein paar Handgriffen zerlegt werden, die Zähne der Rätsche mit dem Zahnbürstli gebürstet und geölt und schon summt er wieder wie neu.
Den Freilauf wieder ins Nabengehäuse eingesetzt, die Achse wieder durchgeschoben und jetzt kommt die Behebung von Martinas Alpträumen auf den letzten 1000 Kilometern: mit der Achsmutter werden die zwei Radlager mit viel Gefühl ganz sanft vorgespannt. Wenn diese Vorspannung abfällt, kann sich das Rad im Lagerspiel bewegen, die Felge lässt sich in dem Fall um etwa ein bis zwei Millimeter hin- und herschwenken. Damit erhält auch die Kassette auf dem Freilauf etwas Spiel, und man kann dann die Lager je nach Belastung hören, da sie etwas Freiraum haben um zu vibrieren oder sich unter Last etwas verschieben können.
Im Service-Manual steht man sollte die Nabe nach ein paar Monaten oder spätestens nach einem halben Jahr überprüfen und reinigen. Seit ein paar Tagen sind wir nun ein halbes Jahr unterwegs, und noch ist kein einziges Chügeli in unseren Lagern zermalmt.