Afganistan

Türkei – Mitte August

Das Schwarze Meer liegt nördlich und einige Tage hinter uns. Das Pontische Gebirge ist durchquert und wir ziehen wieder ostwärts durch die braune, trockene Hügellandschaft von Anatolien. In einem engen Tal am Fluss, überragt von einer Burg und drei in den Fels gehauenen Königsgräbern liegt Amasya.

Schon einige Tage vorher haben wir über Couchsurfing einen Gastgeber in dieser Stadt gesucht und dabei auch Sarah angefragt. Die nächsten zwei Tage verbringen wir in einem anderen Land und erfahren die erschütternde Fluchtgeschichte einer jungen afganischen Familie.

Die Hügel rücken zusammen und die vierspurige Schnellstrasse läuft auf ein schmales Tal zu. Ein riesiger Heissluftföhn schiebt uns rasant über die gelbbraune Ebene. An der Tankstelle versuchen wir nochmal mit unserer Gastgeberin Kontakt aufzunehmen, wir müssen schliesslich wissen wo wir hin sollen um sie zu treffen. Die Kommunikation ist schwierig, irgendwie erreichen wir sie nur selten und dann erhalten wir noch eine zweite Nummer, doch auch hier kein Kontakt. Wir versuchen es mit SMS, die Handynummer ist vom Iran. Als wir dann im Stadtzentrum von Amasya stehen, zweifeln wir, ob das noch funktionieren wird, wir warten und checken schon mal Airbnb. Dann ruft uns Sarah an, und nach einigen Runden um die klobige Statue treffen wir eine kleine, zierliche junge Frau mit asiatischen Gesichtszügen, langen Haare und ohne Kopftuch – in der Zwischenzeit fällt uns das schon auf wenn Frauen westlich unverschleiert unterwegs sind…

Sie spricht gut Englisch, wir begrüssen uns und sie lädt uns zu sich nach Hause ein. Leider ist ihr Zuhause ganz oben am Hang, Amasya liegt in einem engen Tal mit steilen Seitenwänden. Martina ist schon in ein lebhaftes Gespräch mit Sarah vertieft, ich renne schwitzend hinterher und kriege erst mal nichts mit was die beiden besprechen. Auf halber Höhe passieren wir eine soziale Einrichtung und nun erzählt uns Sarah, dass sie hier immer wieder vorbei kommt um die Bürokratie bezüglich ihrem Flüchtlingsstatus zu erledigen.

Moment, was, wie bitte? Aber es ist zu steil und zu heiss um das gleich hier und jetzt zu vertiefen, wir zerren unsere tonnenschweren Göppel die senkrechte Strasse rauf und rutschen immer wieder auf den Metalleinsätzen in unseren Veloschuhen aus. Im Quartier sitzen Frauen vor den Häusern und wir werden kritisch aber wohlwollend beäugt, «Merhaba» alle drei Meter.

Wir bleiben keuchend vor einem unscheinbaren Haus in der Reihe stehen, ein junger Mann mit dunkler Haut und schwarzen Haaren und Bart begrüsst uns – Hakim, der Ehemann von Sarah’s Schwester. Und dann geht das unvermeidliche Chaos los, dass immer mit einer Ankunft von uns, unseren zwei Velos und zehn Sacoschen einhergeht. Wir schleppen unser Zeug in die Wohnung, zwei Räume und ein kleiner Balkon, keine Möbel, aber wirklich gar keine. Es liegen überall Teppiche am Boden, zusammengewürfelt. Im Wohnzimmer gibt es auch eine Küche, so scheint es mindestens wegen der Küchenschränke, aber wo ist der Herd? Da stehen zwei Gasflaschen mit Kochaufsatz in der Ecke. Unser Bagasch verstauen wir auf dem Balkon und in der Zwischenzeit wird Tee gekocht und es versammeln sich alle im Wohnzimmer. Man setzt sich in der Raummitte auf den Teppich, das Tischtuch wird am Boden ausgerollt. Da sind Sarah, ihre Schwester Malekah und ihr kleiner Bruder Emad. Und dann setzt sich Hakim dazu, auf dem Arm die drei Monate alte Mehrsa, die zufrieden in die Runde gluckst.

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Sarah und ihre Familie sind erst knapp drei Wochen in der Türkei. Sogar wir sind schon länger in diesem Land unterwegs als sie! Die Wohnung in Amasya bewohnen sie erst seit Kurzem, niemand von ihnen spricht türkisch. Alles ist neu für sie. Sie kamen alle zusammen mit der kleinen Mehrsa aus dem Iran in die Türkei und befinden sich nun im Aufnahmeprozess der UNO für Flüchtlinge. Keine zwei Wochen vorher wurden sie im Aufnahmezentrum der Türkei befragt und vorläufig aufgenommen und zufällig in die Stadt Amasya verschoben, wo sie nun aber komplett ohne Hilfe und Betreuung und vor allem ohne Geld sich selbst überlassen werden. Es kann einige Wochen dauern bis sie die vorläufige Aufenthaltsbewilligung erhalten und damit Arbeit suchen können. Bei der Wohnungssuche hat die soziale Organisation geholfen, die erste Miete haben sie mit ihrem letzten Geld bezahlt und nun leben sie hier. Mitgebracht haben sie nur was sie tragen konnten, etwas Kleider, Handys, das Bebeeli.

Dank der immer zufriedenen Mehrsa wurde ihr Fall so schnell bearbeitet und sehr wahrscheinlich wurden sie auch dank Mehrsa direkt vorläufig aufgenommen. Mehrsa strahlt alle an und scheint glücklich und zufrieden. Die Frauen aus der Nachbarschaft kommen vorbei um sie zu sehen, auf der Strasse wird sie herumgereicht. Die Teppiche in der Wohnung, die Bebekleider, die Gasflaschen zum Kochen, alles kommt von den hilfsbereiten türkischen Nachbaren. Die junge Familie hat ja nichts dabei, kein Nuggi, kein Bebebettli, kein Schoppen, nicht mal Decken für die hier in den Bergen eher kühlen Nächte.

Wir sitzen immer noch beim Tee, in den verschwitzen Velokleidern und können kaum glauben, was wir hören. Hakim greift dann ein; «lasst sie doch endlich mal duschen und erholen!» Nebenan im Badezimmer installiert ein Monteur einen Durchlauferhitzer für warmes Wasser in der Dusche. Wir müssen uns nicht erholen, wenn, dann müssen sie sich erholen!

Sarah und ihre Familie stammen aus Afganistan und sie gehören einer Minderheit mit asiatischen Wurzeln an. Sie werden in Afghanistan diskriminiert und wegen ihrem Glauben bedroht, nebenbei beherrscht die allgemein bekannte Terrororganisation das Land und tötet auch heute und jeden Tag willkürlich Kinder, Mütter und Väter in den Dörfern. Schon vor 15 Jahren sind sie mit ihren Eltern in den Iran geflüchtet, wo sie dann auch gelebt haben, unter Umständen die eigentlich niemand akzeptieren kann. Auch dort haben es die jungen Leute am Schluss nicht mehr ausgehalten, sie sind in einer mehrwöchigen Reise aus dem Iran über Afganistan und anschliessend wieder durch den Iran bis in die Türkei gereist. Sie durften nicht erkannt und gefunden werden, das Reisen ist den afghanischen Flüchtlingen im Iran untersagt.

Wie sie ihr bisheriges Leben im Iran und der Türkei gemeistert haben ist für uns unvollstellbar. Nur schon eine mehrwöchige Flucht quer durch das Land mit einem drei Monate alten Bebe, ohne von Behörden aufgegriffen oder von Leuten diskriminiert und an die Behörden verraten zu werden, in überfüllten Bussen bei grosser Hitze, ohne Geld. Mehrsa scheint diesen Höllentrip gut überstanden zu haben, sie ist das Zentrum der Aufmersamkeit und strahlt Hoffnung und Liebe aus.

Man könnte meinen dass Flüchtlinge ohne Geld vielleicht Dringenderes zu tun haben als Fremde aus einem reichen Land mit restriktiver Flüchtlingspolitik zu beherbergen, doch keine Frage, das liegt drin, sie könnten ja eh nichts tun ausser auf die Papiere warten oder schwarz arbeiten falls sie etwas finden ohne die Sprache zu beherrschen. Und sowieso, Sarah hat schon im Iran immer bei Couchsurfing mitgemacht, warum also nicht hier und jetzt? Beeindruckend. Wir müssen vehement widersprechen als sie sich für die Umstände entschuldigen, kein Bett, kein eigenes Zimmer.

Martina und Sarah gehen für’s Znacht einkaufen, die beiden Frauen scheinen ein afghanisches und ein iranisches Menü kombinieren zu wollen. Wärend der Diskussion über das Was und Wie beginne ich zu ahnen, dass es eventuell beim Kochen zu einem kleinen Chaos kommen könnte. Die etwas bedrückte Stimmung nach den Erinnerungen an die letzten Wochen der Flucht verfliegt schnell. Wir sind keine drei Stunden hier doch fühlen wir uns zusammen im Wohnzimmer auf dem Teppich sitzend schon wie Zuhause. Der zwölfjährige Emad hilft hier und dort, irgend jemand von all den Anwesenden schaut auf Mehrsa, die vergnügt auf dem Teppich liegt. Sie weine sozusagen nie. Nach drei Nächten und zwei Tagen haben wir sie nur einmal kurz weinen hören als sie vom Deckenstapel auf den Teppich runtergerollt ist.

Nach dem Chaoskochen und einem superleckeren Znacht sitzen wir mit Tee im Kreis. Sarah will mit uns morgen Sightseeing machen, sie kenne ja ihre eigene Stadt nicht! Kurz darauf erscheinen weitere Leute, aus der afghanischen Gemeinschaft in Amaysa, eine ältere Frau mit blitzenden Augen und einem warmen Lächeln und eine junge Frau, die quirlig zwischen Persisch und Türkisch übersetzt, weil hinter den Frauen erscheint noch Mister Mustafa. Er ist Türke und unterstützt mit einer Freiwilligenorganisation die Flüchtlinge und versucht ihnen zu Beginn bei Alltagsproblemen zu helfen. Es entsteht ein äusserst komplexes Gespräch in drei Sprachen mit zwei Dolmetscherinnen.

Nach einem kurzen nächtlichen Ausflug mit Mister Mustafa auf den Hügelzug neben der Stadt sind wir alle etwas erschöpft wieder zurück in der Wohnung, Hakim und seine kleine Familie verabschiedet sich ins einzige Zimmer der Wohnung während Emad und Sarah jeweils eine Decke auf den Teppich legen um sich dann zum Schlafen hinzulegen. Wir blasen unsere Mätteli auf und haben unterschwellig das Gefühl das sogar wir mit unserem aktuell eher einfachen Lebensstil doch noch total überausgerüstet und verweichlicht sind. Wir plaudern im «Bett» sitzend weiter, es fühlt sich ein bisschen an wie Landschulwoche, nur mit manchmal erschütternd ernsten Themen.

Man geht gleichzeitig ins Bett und man steht auch gleichzeitig wieder auf, das kommt so bei dieser Wohnform, doch für uns fühlt es sich an als ob wir bereits Teil der Familie und dem Alltagsbetrieb sind. Zmorge machen, Tee trinken, Abwaschen. Emad nimmt sich dem Abwasch an und wir planen unsere Stadtbesichtigung. Emad und Sarah begleiten uns und wandern mit uns Touristen mit, sehen ihr neues Zuhause genau so wie wir ein erstes Mal. Das Städchen ist hübsch, es gibt einige alte und schön restaurierte Moscheen. Wir werden bei jeder von den älteren Männer am Waschhaus zuerst kritisch beäugt. Dann aber auf Nachfrage mit Händen und Füssen hinein geleitet wo dann mindestens Martina und ich wie meistens staunend in die hellen, farbigen Kuppeln hinauf schauen. Es ist heiss und es wird immer heisser, wir erreichen das Stadtviertel mit Kleiderläden und tausend anderen Krimskramsgeschäften. Ich bin etwa ähnlich motiviert wie Emad, wir trotten den zwei Frauen hinterher, die für Martina passende Kleider für den Iran suchen. Martina will die Gelegenheit nutzen mit fachkundiger Beratung shoppen zu können. Sarah kennt die Kleiderregelungen im Iran bestens. Für sie ist die Türkei das Land der Freiheit für die Frauen. Schon an der Grenze riss sie sich das Kopftuch vom Kopf und ist kein bisschen bereit sich in irgendeiner Form unterdrücken oder bevormunden zu lassen. In der ziehrlichen Frau steckt ein riesenstarker Wille und eine unglaubliche Kraft, sie setzt alles dran ihre Familie zu retten und nebenbei will sie die Frau aus der Versklavung befreien. Wir beiden Männer können hier nicht mithalten, wir verziehen uns nach Hause und lassen die Frauen shoppen.

Ich sitze mit Hakim auf dem Balkon. Sein Englisch ist markant weniger flüssig als das von Sarah, bei jedem zweiten Satz bin ich oder er nicht sicher ob ihn der andere verstanden hat. Das Gespräch ist deshalb sehr langsam, die beiden sprachgewandten wirbelnden Feministinnen sind beim Kleidershoppen. Ich frage nicht explizit nach seiner Geschichte, doch irgendwie ergibt es sich dann doch, dass Hakim nach und nach immer mehr aus seinem Leben erzählt.

«Ich liebe mein Land Afghanistan!» Aber trotzdem kann er nicht dorthin. Er will kein Flüchtling sein, er will nicht, dass seine Familie in einem fremden Land leben muss, abhängig von der Willkür fremder Staaten. «Aber in Afghanistan können wir nicht leben.» Früher oder ein anderes Mal, unsere Kommunikation ist zu wenig präzise für Details, überfielen die Terroristen das Dorf. Es folgt eine Szene mit unmenschlichem Inhalt, es geht um Männer und eine hilflose Frau. Er schaut über den Rand des Teeglases in die Ferne. Teile des Geschehens schildert er flüsternd. «Ich habe das mit eigenen Augen gesehen. Am Schluss war sie tot.» Wie kann man an diesem Ort ein Kind aufziehen wenn man gesehen hat was hier passiert? Welcher Vater ist bereit, sein Kind, seine Familie, solchen Situationen auszusetzen? Wer will das Risiko eingehen, sein Leben unter unwürdigsten Bedingungen zu verlieren, oder dabei zu zusehen wie das eigene Kind es verliert? «Es ist zu gefährlich, wir gehen fort.»

Die zweite Geschichte ist kompliziert. Die UNO will bei der Aufnahme die Kurzversion. Es gibt keine Kurzversion, zu kompliziert, zu weit zurück liegt der Auslöser der Bedrohung für Hakim. Ich verstehe genug um die Sinnlosigkeit der ganz konkreten Todesbedrohung von Hakim nachvollziehen zu können. Es geht in dieser zweiten Geschichte auch, oder eher hauptsächlich, um seinen Vater. Es geht um politischen Widerstand. Als Hakim vor nicht allzu langer Zeit aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt ist, dauert es nicht lange und verschiedenste Freunde warnen ihn, das Land sofort wieder zu verlassen oder er werde nicht mehr lange leben. Nicht weil er etwas falsch gemacht hat, aber auch keine Willkür. Es liegt am Namen des Vaters. Sein Verhalten muss gerächt werden, und da der Vater unerreichbar im Iran lebt, kommt halt an seiner Stelle sein Sohn dran. Hakim flieht ein zweites Mal aus Afghanistan, ich habe nicht mitgezählt wie viele Male er auf welche Art die Grenzen überquert hat. Die letzte Möglichkeit bleibt also der Westen, alles andere ist tödlich, geografisch unerreichbar oder zu teuer. Nun sind sie also hier, die akkuten Bedrohungen sind weg. Hakim erzählt und erklärt in mühsam zusammengesuchtem Englisch von seinem Land, Geschichte, Kultur und das Alltagsleben. Und er stellt immer wieder die Frage wie sich das jemals ändern kann. Was kann man tun? Ich habe keine Ahnung. Wie kann man ein zutiefst korruptes System ändern? Wie können junge Menschen mit Zukunftsplänen eine Macht- und Geldgierige Elite ablösen? Wie kann man die sinnlose und willkürliche tödliche Gewalt einer Terrororganisation stoppen? Das sind die Probleme in Hakim’s Zuhause.

Die Sonne steht tief und lässt die Stadt orange leuchten, wir sitzen nun schon lange auf dem Balkon. Dann räblets und die beiden Frauen übernehmen die Wohnung. Die improvisierte Küche kommt an ihre Grenzen, gekocht wird auf zwei Gaskochern am Boden, es fehlt an Pfannen. Mir scheint, oder so hoffe ich wenigstens, dass Martina und ich etwas Ablenkung in die doch eher schwermütige und fast schon hoffnungslose Stimmung bringen. Beim Znacht geht’s drunter und drüber, es wird gewitzelt und gelacht, so wie das bei jungen Leuten und Kindern sein soll. Diese sinnlosen Kriege, geführt von geld- und machtgierigen alten Männer, zerstören nachhaltig und langfristig jede Familie und zwingen auch die stärkste Hoffnung früher oder später in die Knie.

Genau diese unterschwellige Dauerbelastung zerrt auch an der Lebensenergie von Sarah. Sie hat es zwar geschafft ihre Schwester und deren Familie und auch ihren kleinen Bruder in eine relative Sicherheit zu bringen, doch zum Preis, dass ihre Familie nun auseinansergerissen ist. Ihre Eltern und weitere Geschwister sind noch im Iran, und beim ins Bett gehen erzählt sie uns wie gerne sie ihre Eltern auch nach Amasya holen möchte, doch ist das eine Einbahnstrasse, danach gibt es kein Zurück mehr in den Iran. Ihr Vater ist Bauer, hat Haus und Land und wenn er flüchtet muss er das alles aufgeben. Auch werden sie in ihrem Alter aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen – hier ohne die Sprache zu beherrschen und ohne Arbeit ein neues Leben zu beginnen ist vielleicht auch nicht die beste Lösung. Die junge Frau trägt ihre gesamte Familie, kämpfte ein Leben lang gegen die Einschränkungen der Frau und musste Diskriminierung wegen ihrer Herkunft ertragen.

Wir versuchen irgendwie etwas Optimismus zu verbreiten, die momantane Sicherheit, die «Freiheit» die sie jetzt haben. Vielleicht schon bald eine Arbeit, und die Unterstützung der Nachbaren. Zeitweise, so scheint es uns, kehrt Lebensfreude zurück und etwas Hoffnung auf eine Lösung scheint greifbar. Es ist ein auf und ab der Gefühle. Auch macht es Sarah Freude uns vom Iran zu erzählen und uns Persisch beizubringen, bei mir verschenkter Aufwand. Es gibt viel zu Diskutieren und Lachen als die beiden Frauen Martina einen Kurs zum Kopftuch geben und dabei ungezählte Varianten für jede Lebenslage und Kleiderstile durchexerzieren.

Am nächsten Morgen muss ich wohl oder übel den Abwasch übernehmen, Martina macht das zur Lektion für Sarah, die sich als Feministin bezeichnet und Gleichberechtigung hochhält. Die alten Muster sind tief verwurzelt, auch wenn Frau weiss wie es laufen sollte, schlussendlich erledigen trotzdem sie den Einkauf, das Kochen und den Abwasch. Sie flüstert uns zu dass sie ganz erstaunt ist wie viel der zwölfjährige Emad plötzlich im Haushalt erledigt seit wir da sind, Tee kocht, Tisch deckt und abwäscht. Während ich also murrend alles Geschirr feinsäuberlich sortiere und geordnet zum Abwaschen bereitstelle, steht Emad schon bereit. Er zeigt mir wie man den Abwasch zu erledigen hat, wie die Seife auf den Schwamm kommt und gibt mir gewissenhaft die nicht ganz sauberen Teller nochmals zurück zum nachspülen. Wurde auch Zeit dass mir mal einer zeigt wie Abwaschen geht!

Wir müssen unbedingt einen Tag länger bleiben, obwohl wir irgendwie das Gefühl haben das können wir der Familie ja nicht zumuten. Doch wir sind zu einer Hochzeit in der afghanischen Gemeinschaft von Amasya eingeladen und Sarah will uns dabei haben. Wir bleiben sehr gerne etwas länger hier, die Familie ist uns in kürzerster Zeit ans Herz gewachsen. Und wenn wir sie kurzfristig etwas aus ihren Sorgen reissen können und etwas Ablenkung bringen mit unserem Besuch dann muss man uns nicht zweimal fragen! Als es dann an die Vorbereitung für die Hochzeit geht kommt dann auch immer mehr Stimmung auf, die wenigen Kleider werden durchprobiert, Duschen, Haare machen, etwas Schminkzeug lässt sich auch auftreiben. Die Wohnung wird zum Hühnerstall und ich verziehe mich mit Hakim auf den Balkon.

Die Hochzeit findet am anderen Ende der Stadt statt und auch Sarah kennt das Brautpaar nicht. Doch da die afghanische Flüchtlingsgemeinschaft in Amasya eher klein ist, kann jeder kommen. Auch sei das wohl nicht mit einer traditionellen Hochzeit in Afghanistan zu vergleichen, da drückt dann wohl die iranische Version durch. Am Eingang werden Männer und Frauen separiert, und wir trennen uns. Die Frauen verschwinden im hinteren Teil des Raums hinter Vorhängen während Hakim, Emad und ich uns etwas verloren an einen Tisch zwischen lauter Unbekannten setzen. Vorne auf der Bühne sitzt der Bräutigam, eingerahmt von seinen Trauzeugen, vorne dran ist Platz zum tanzen. Der Typ an der Musikanlage ergibt sich den Zurufen der Tänzer und spielt wild gemischt traditionelle afghanische Hochzeitsmusik und türkisch-orientalischer Partypop. Die Jungs auf der Tanzfläche geben alles, ein wildes Gemisch zwischen irgendwelchen Ritualen und Herumgehüpfe. Die Musik ist ohrenbetäubend laut, auch zehn Meter weiter hinten am Tisch ist jede Unterhaltung unmöglich. Wir essen das servierte Hochzeitsmenü und werden dann irgendwann vom Tisch weg gezerrt und in die tanzende Runde geschoben. Ich stopfe mir Servietten in die Ohren und versuche das Hüpfholpertanzgehopse kombiniert mit ausgestreckten Armen und sich mit mir nicht erschliessenden Fingerbewegungen zu kopieren. Als wir nach ein paar Stunden wieder gehen, meint auch Hakim ohne die Frauen sei es halt nur halb so lustig. Das wahr wohl nicht sehr repräsentativ.

Martina hat aus dem Frauenabteil etwas mehr zu erzählen. Solange keine Männer anwesend waren, haben sich die Frauen die Kopftücher runtergerissen und auch die langen Röcke und Leggins waren plötzlich weg und es wurde wild getanzt. Sobald aber irgendwo einer der Herren aufgetaucht ist war plötzlich Ruhe, alles sitzt brav und verhüllt an den Tischen. Auch ernteten Sarah und Malekah zum Teil stille Kritik weil sie sich in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch erzählt, dass schon die eine oder andere sogar direkt bemerkt hat, dass das keine Art sei herumzulaufen.

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Nach der Hochzeit machen wir noch alle zusammen einen Ausflug zu den Königsgräbern in der Felswand, machen Fotos, diskutieren und geniessen den unbeschwerten Moment. Die Abendsonne taucht die Stadt wieder in oranges Licht, und wir versuchen an der gegenüberliegenden Talseite Sarah’s neues Zuhause zu finden. Der letzte Abend vergeht viel zu schnell, und dann brechen wir schweren Herzens wieder auf. Wir tauschen Nummern und hoffen auf ein unwahrscheinliches zweites Treffen, irgendwo auf dieser Welt, hoffentlich irgendwann in einem stabilen und sicheren Afghanistan.

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