Armenien – Mitte Oktober
Hinter uns der Sewansee, vor uns braune und beige Hügel und Kegel, über uns grosse weisse und graue Wolken, sie ziehen uns vom bissigen Wind getrieben entgegen und über uns hinweg. Wir sind auf über 2000 m Höhe und fragen uns, wo denn die Kamele sind.
Der grösste See Armeniens und einer der höchst gelegenen weltweit dieser Grösse (doppelt so gross wie der Genfersee) liegt schon hinter uns, wir sind in den armenischen Bergen, die hier jedoch trotz Höhen zwischen 2500 m und 3500 m eher Hügel oder Vulkankegel sind. Goldenes, stacheliges Gras bedeckt die Hänge bis weit hinauf, nirgends hat es Bäume. Irgendwie erinnert es uns hier an das bolivianische Hochland, das liegt wohl aber auch an der Jahreszeit; der Herbst hat Einzug gehalten und das Grün hat sich rar gemacht.
Am morgen hatten wir null Bock uns aus dem Schlafsack zu schälen, 6°C bei Sonnenaufgang. Beim Aufstieg zum Selim-Pass (irgendetwas bei 2300 m Höhe) wird es zwar von innen etwas wärmer, der Wind aber kühlt uns zackig aus wenn wir stehen bleiben. Die unspektakuläre Passhöhe lassen wir schnell hinter uns, der Halt an der zügigen Kuppe reicht knapp um Primaloft und Regenjacke zu montieren, genervte Blicke in diverse Fotoapparate (schön hat jeder von uns einen dabei) und weiter gehts. Nur zwei Kehren weiter unten zweigt eine Erdstrasse ab, auf dem Strassenschild lässt sich ein touristisches Highlight erahnen (in die absolut unleserliche armenische Schrift lässt sich mit einigem Optimismus von geheiztem Restaurant bis UNESCO alles reininterpretieren). Holper, holper und wir stehen auf einem Parkplatz mit schrägem Steintisch und einem improvisierten Verkaufsstand, und am Hang steht ein langes Gebäude aus grauen Steinblöcken, Steindach und einem – so scheint uns – arabisch anmutenden Eingang. Sehr unspektakulär alles, nichts angeschrieben, nichts abgesperrt oder sonstwie hergerichtet.
Es handelt sich um eine 700 Jahre alte Karawanserei, gut erhalten, wahrscheinlich wäre dies ein wichtiges Kulturdenkmal. Man kann hier als Andenken unbehelligt seine Initialen in die Jahrhunderte alten Steinwände ritzen, Geschichte zum Anfassen. Die Hintergrundinfos müssen wir aus Wikipedia und Wikivoyage zusammenkratzen, dann stolpern wir ins Dunkle.
Es gibt alte in den Stein gehauene Verzierungen und Inschriften, leider kann jeder Depp noch seinen eigenen Senf dazu krakeln oder – wie hier wirklich geschehen – das unbeliebte Sprüchlein in arabischer Schrift gleich ganz zensurieren. Es gibt kein Licht, das Gewölbe ist ohne Fenster und nur mit Rauchabzügen im Dach eher düster, die asiatischen Reisegruppen stolpern mit den Handys als Taschenlampe in der dreischiffigen Halle herum. Das Gebäude ist eigentlich sehr eindrücklich, mit Wikipedia kann man die Bereiche für Tiere und Reisende identifizieren, mit etwas Vorstellungsvermögen erhellen Feuer das Gemäuer, die dicken Mauern halten seit Langem schon jedem Wetter stand.
[flickr_tags tags=»velovostok, Karawanserei-Selim» tags_mode=»all» images_height=»300″ last_row=»nojustify» captions=»true» max_num_photos=»1″]
Vielleicht kommt hier mal irgendjemand auf die Idee, die Besucher auf einem Weg durch die Karawanserei zu lenken, damit nicht jeder überall herumtrampelt und alles aachaflet, mit etwas indirektem Licht Stimmung zu erzeugen und eventuell die ehemalige Latrine in einem dunklen Winkel aufzuheben. Hinter dem 20 Meter langen Bau liegt das Touristenfreiluftscheisshaus, im Windschatten des uralten Gebäudes bleibt das WC-Papier lange herumliegen.
Das fehlende Intresse vom armenischen Staat oder wohl eher das ihm fehlende Geld allein schleift dieses alte Zeitzeugnis vom Handelsverkehr zwischen Asien und Europa aber nicht, das grössere Problem sind die Besucher aus genau diesen Kontinenten, die sich hier im unkontrollierten und unreglementierten Raum endlich so benehmen können wie sie das von unseren Vorfahren aus den dunklen Höhlen gelernt haben.
Es ist ein beeindruckender Bau, man sieht ihm die 700 Jahre aber kaum an, die grossen Steinblöcke sehen zeitlos aus, die Bögen im Gewölbe sind schnörkellos. Da lagen die Reisenden im Stroh, um sich vom anstrengenden Aufstieg zur Passhöhe zu erholen, auf dem Weg von Europa nach Asien oder zurück. Daneben standen ihre Kamele (hier wohl eher Pferde, aber das passt in unserer beschränkten Vorstellung nicht zu einer Karawane). Auch wir machen hier Halt, unsere schwer beladenen Velos stehen in einer Reihe vor dem Eingang, unsere Kleider staubig, die Bärte lang und Europa liegt schon weit hinter uns. Vor uns liegt Hügelkette an Hügelkette, doch Persien ist in fast greifbarer Nähe Nur eine Woche reisen liegt noch zwischen uns und der iranischen Grenze.