Türkei – Ende Juli
Könnt ihr euch noch an Metin, Seniz und Ebral mit ihrer Familie erinnern? Da sind auch noch ne Hand voll Fischer und zwei Lausbuben (einer davon ist Ebrals kleiner Bruder) und ein schüüches Mädchen sowie «the Captain» in zerstörerischer Aktion Teil der Geschichte. Auch kommen noch drei verschleierte junge Frauen und ein Betrunkner dazu und oh Freude unsere Velofreunde Matthis und Franzi. Mitten drin Martina, das glückliche Geburtstagskind, hoch soll sie leben! Ort der dramatischen Szenen ist immer noch ein kleines Feriendörfli in einer schmalen Bucht an der bergigen Schwarzmeerküste der Türkei.
Wir schlafen aus, in ungewohntem Luxus. Ebral hat uns nach dem langen Abend mit spannenden Diskussionen im Gästezimmer einquartiert. Am nächsten Morgen wird ein komplettes Frühstück mit Rührei, Käse, Tomaten, Gurken, Chili, Melasse und Honig zu frischem Brot aufgetischt, wobei selbstverständlich und wie auch sonst immer und überall hier all die Arbeiten von den Frauen erledigt werden. Die Mutter von Ebral ist Hausfrau, Beruf hat sie keinen. Der Vater ist CNC-Mechaniker und er wird die Bude von seinem Vater übernehmen – produziert werden dort Pumpen für die Landwirtschaft. Ebral mit ihrem Studium der Molekular-Biologie und Genetik ist der ganze Stolz ihrer Eltern, man siehts und spürts ohne die Sprache zu verstehen. Ebral würde gerne wie jeder Studi ein Auslandsemester machen oder in den langen Semesterferien durch Europa reisen – doch die Schengen-Visa und die europäische Politik machen das fast zur Unmöglichkeit. Die Vergabe der Visa und die Gültigkeitsdauer sind willkürlich und an viele Auflagen gebunden, ohne europäische Kontaktperson mit finanziellen Garantien läuft nicht viel. So wird es für Ebral und auch alle anderen Türken fast unmöglich die Schweiz oder ein anderes europäisches Land zu besuchen.
Wir räumen unsere Siebensachen zusammen und verschieben uns wieder an den Strand. Dank dem einzigen W-Lan im Dorf bei Metins Haus wissen nun auch Matthis und Franzi (die beiden deutschen Tourenradler, welche wir seit Montenegro immer wieder und meistens absichtlich treffen) dass sich hier ein ganz netter Zwischenstop machen lässt, wir erwarten sie schon voller Vorfreude. Es ist ein Tourenradler-Phänomen; es lassen sich stundenlang die vergangene Strecke mit allen Details wie Strassenbelag, Steigung, geeignete Zeltplätze, Hundeangriffe, Einkaufsmöglichkeiten und tausend andere Vorkomnisse besprechen und alle verstehen ohne lange Erklärungen die Ängste und Bedenken wie auch Freuden und Hochgefühle, meistens ausgelöst durch Banalitäten wie Wasserhahnen am Strassenrand. Natürlich lassen sich auch Ausrüstung und Vorgehen unterwegs immer wieder diskutieren und gemeinsame Lösungen für Alltagsprobleme finden. Auch nach mehreren Tagen in gemeinsamen Unterkünften in den letzten Wochen können wir mit den beiden ganze Abende lang plaudern.
In der Zwischenzeit kennt uns das ganze Dorf, alle wissen das wir hier sind, jeder winkt und grüsst jedes Mal wenn man sich über den Weg läuft. Zwei Jungs strapazieren ihr minimales Schulenglisch arg um mit mir zu kommunizieren. Wir sitzen bei Metin vor dem Haus und hängen an der einzigen Datenleitung ins Internet. Ich zeige Ihnen unsere Route auf der Karte und wir überfordern Google Translate im Unterhaltungsmodus. Alle scheinen begeistert zu sein dass wir hier einen Tag Pause machen.
Irgendwann haben wir gegenüber Metin und Seniz erwähnt, dass unsere deutschen Freude auch noch angeradelt kommen. Wohl so um den Mittag rum. Es kommt uns verdächtig vor, dass Metin kurz darauf noch einkaufen geht… Als dann die beiden anderen verschwitzen Velöler eintreffen geht ein zweites Mal ein grosses Hallo durchs Dorf, und Metin gibt den Zeitpunkt fürs gemeinsame Mittagessen bekannt. Langsam wird es etwas unheimlich, ohne das wir irgendetwas dafür oder dagegen tun können sind wir vier nach dem Mittagsgebet erneut zum Essen eingeladen. Es gibt Reis mit Pouletschenkel, die Jungs kriegen drei, die Mädels zwei. Dazu kalten Kirschensaft und frischer selbstgemachterPflaumensaft, auch das Dessert mit Glace und Shortbread (zwei für die Jungs, eins für die Mädels) und literweise Schwarztee werden aufgetischt. Man kann nichts helfen oder beisteuern, es ist grossartig. Natürlich müssen wir noch all unsere Kleider waschen (es wird gewaschen!) und jeder soll doch bitte mehrmals täglich die Dusche benutzen.
Erschöpft von den unglaublichen Steigungen der Strasse in den letzten Tagen ist unsere Verteidigung gegen so viel Gastfreundschaft eher bescheiden und wir essen und plaudern den ganzen restlichen Tag. Am Abend stellen wir unsere Zelte am Strand auf und nehmen den schönen Picknick-Tisch in der Mitte in Beschlag, gutmütig und schuderhaft interessiert beobachtet vom Rest der Dorfbewohner. Eigentlich wollten wir was zum Znacht kochen doch lässt uns Seniz nicht. Es ist unmöglich dass wir uns selbst versorgen. Sie bringen uns warme Toasts und Tee an den Strand! Sie nimmt uns das Versprechen ab, dass wir am nächsten Morgen zum Frühstück kommen, da gibt es nichts mehr zu diskutieren. Unsere Gegenwehr ist sinnlos, wir kapitulieren und nehmen all die Gastfreundschaft nun vorneweg ohne Widerrede an.
Wir haben schon von ihm gehört – dem «Captain». Wir sitzen an «seinem» Tisch am Strand. Alle kennen den Captain – ein älterer Herr, der, nun ja, nicht immer ganz freundlich ist. Er scheucht die Kinder rum und kann es nicht verkraften dass die Gemeinde ihm den Bootschuppen am Strand versagt und es nun öffentlicher Grund ist. Einer der Picknicktische steht auf dem Fundament seines Bootsschuppens, natürlich der schönste, bemalt und mit Sonnenschirm. Und wir haben uns da hingesetzt… plötzlich taucht er auf, im Dunkeln merken wir nichts, irgendjemand leuchtet mit der Taschenlampe rum und deckt uns mit türkischen Worttiraden ein. Wir nehmens gelassen, verstehen eh nichts. Er zieht dann weiter und lässt uns in Ruhe, aber kurz darauf kommen die verschiedensten Leute bei uns am Tisch vorbei und entschuldigen sich für das Verhalten vom Captain, er spinne, wir sollen das vergessen und sitzen bleiben, alles gut, no problem! Unser persönlicher Personenschutz gehört hier auch zur Gastfreundschaft.
Der nächste Tag ist Ruhetag, wir lassen uns von Metin die kleine und mit wunderschönen Keramikplättli verzierte Moschee zeigen. Jeden Tag wird fünfmal zum Gebet gerufen, das erste mal vor Sonnenaufgang (also etwa um 5 Uhr), das letzte Mal wenn die Dämmerung am Abend verblasst ist (etwas nach 22:30). Neben dem Muezzin oder dem Immam kommt es auch vor, dass die Männer aus dem Dorf den Gebetruf singen dürfen, auch unser Lausbub, der kleine Bruder von Ebral, darf ans Mikrofon. So wie wir den Islam und die Gläubigen bei der Auslebung ihres Glaubens hier erleben, können wir die Hetze und negative Berichterstattung westlicher Medien und die Vorurteile und Intoleranz ganz vieler westlicher Europäer einfach nicht verstehen. Eine stark differenzierte Lebenskultur mit vielfältigem Glaube, gelebt in verschiedenster Weise und mit pragmatischer Interpretation der religiösen Gebote, scheint uns oft toleranter und fortschrittlicher zu sein als es unsere westliche mit Vorurteilen belastete und eingeschränkte Sichtweise vorgibt.
Irgendwie hat das halbe Dorf mitgekriegt, dass ich im Dorfladen Geburikuchenkerzli gekauft habe. Über verschlungene Wege hat das auch Seniz mitgekriegt und wir sind selbstverständlich zum Znacht eingeladen. Wir können aber aushandeln, dass wir fürs Dessert selbst schauen und am Strand Martinas Geburi vorfeiern weil wir am nächsten Tag ja wieder in alle Himmelsrichrungen verstreut unterwegs sein werden. Schon am Nachmittag traben erste schüüche Jungs an welche Martina gratulieren wollen. Wir lassen das mit dem genauen Datum, und jeder, der es mitgekriegt hat, wünscht Martina im Verlaufe des Tages alles Gute. Nach dem Znacht werfen wir Martina unter fadenscheinigen Gründen aus der Küche – Seniz hat natürlich einen Kuchen gebacken! Als wir dann mit brennenden Kerzli mitten durchs Dorf stolpern um am Strand Happy Birthday zu singen ist dann schlussendlich jedem klar was hier läuft.
Plötzlich, aus dem Nichts kommt wieder der Captain angedampft, diesmal gibt er uns unmissverständlich zu verstehen dass er uns nicht mag, doch schon greift das halbe Dorf ein, man drängt ihn weg und versucht ihn zu beruhigen, wieder entschuldigen sich alle für den unmöglichen Zeitgenossen. Wir sind auch bescheuert und setzen uns immer wieder an «seinen» Tisch. Wir verschieben uns an den weniger geschichtsträchtigen Tisch nebenan. Ein Fischer taucht auf, uns wird zur Wiedergutmachung Bier geschenkt. Wir können ihn nur mit Mühe knapp davon abhalten noch mehr Bier für uns zu kaufen, der Alkohol ist hier verhältnismässig teuer! Kurz darauf treten drei junge Frauen an unseren Tisch und gratulieren zum Geburtstag. Dann ziehen sie für Martina zwei Geschenke hervor, und auch eins für Franzi, einfach so! Für beide gibt es ein Kopftuch, nicht das Erstbeste, nein, eins das zur aktuellen Bekleidung passt! Unglaublich die Leute hier!
Der Abschied am nächsten Morgen fällt uns schwer. Nur gerade zwei Tage waren wir hier, so viele Leute haben uns die Hand geschüttelt und versucht ein paar Worte Englisch zu sprechen, Metin und Seniz haben uns adoptiert und versorgt als ob wir ihre Kinder wären, wildfremde Leute machen Martina Geburtstagsgeschenke und wir haben das Gefühl jeder (ausser dem Captain) ist uns gutgesinnt. Auf die Gefahr hin dass wir uns in jedem Beitrag wiederholen; die Türkei und vor allem die Leute hier sind grossartig, liebenwürdig, hilfsbereit und leben eine ehrliche und authentische Gastfreundschaft.
Und wisst ihr was? Keine 50 Kilometer weiter fragen wir in einem Dorf ob wir im Park zelten dürfen – und treffen dabei auf A hmed aus Solothurn! Aber das ist eine andere Geschichte.