Iran – Ende Dezember
Als die Schatten immer länger wurden, dachten auch wir langsam daran, einen Schlafplatz zu suchen. Normalerweise gar kein Problem hier im Iran. Meist finden wir eine kleine Strasse, die von der grossen abzweigt und nach ein paar hundert Metern können wir unser Zelt auf einem hübschen Plätzchen ausser Sichtweite der Strasse aufstellen. Nicht so an diesem denkwürdigen Freitag im Dezember.
Unser Ziel war der Hafen von Bandar-e-Pol am persischen Golf, von wo wir nach der Insel Qeshm übersetzen wollten. Aber eigentlich erst am nächsten Morgen. Wir waren noch ungefähr 15km von der Küste entfernt, die Beine waren müde, der Tag lang und streng gewesen. Aber rechts und links der Strasse sah es einfach nicht so amächelig aus. Umgepflügte Erde, Minengebiet, Kieswerke. Irgendwie bzw. irgendwo wärs wohl schon gegangen. Aber wir konnten uns nicht entschliessen. Ausserdem blieb uns noch ca. eine Stunde bis es finster werden würde. Also radelten wir weiter. Roman meinte, sobald wir auf die Strasse, die zum Hafen führte, abgebogen seien, sei der Verkehr sicher weniger stark. Ist ja eine Sackgasse. Und wer fährt da am Abend noch runter?
Doch irgendwie wollte der Verkehr nicht abnehmen. Und auch die Gegend neben der Strasse wurde nicht zeltplatziger. Im Gegenteil: flach, soweit das Auge reicht, spärliche Büsche und jede Menge halbwüchsiger Männer, die sich auf dem sandigen Untergrund mit ihren Motorrädern vergnügten. Also radelten wir weiter. Flucht nach vorne sozusagen. Und dazu hatten wir jetzt auch noch einen netten Gegenwind. Meine Laune sank stetig, ich war müde und Gegenwind hasse ich sowieso. Einige Kilometer vor dem Hafen schalteten wir das Licht ein, die Dämmerung war schneller als wir. Dann, 200m vor dem Hafen sahen wir plötzlich mannshohe Büsche vor dem Meer. Endlich. Auch die Motorrad-Jungs waren weg. Wir bogen von der Strasse ab und mussten feststellen, dass der Untergrund nass war.
Also zurück zur Strasse und zum Hafen. Wir sahen von Weitem Ticketschalter – so ähnlich wie wir sie vom Lötschbergtunnel kannten – und Autoschlangen davor. Ich war langsam im Erschöpfungs- und Panikmodus. Mir war überhaupt nicht danach, jetzt mit Händen und Füssen zu erklären, dass wir noch gar nicht rüber wollten, sondern Obdach suchten. Aber es blieb uns nicht viel anderes übrig. Ein junger Herr kam auf uns zu und verstand unsere Geste schnell. Er deutete nach vorne und meinte «safe». Wir folgten ihm, in der Hoffnung das Ganze könnte doch schneller gehen als befürchtet. Doch auf Höhe der Ticketschalter wurde der Mann von einem älteren Herrn aufgehalten. «Passport», erklärte er uns. Wir stellten uns dumm, wollten wir doch unseren Pass nicht einfach irgendeinem Herrn in zivil aushändigen. Der Mann verschwand und bedeutete uns zu warten. Kurz darauf erschien er wieder, im Schlepptau einen jungen Iraner, der in Amerika studiert und mit seiner Familie auf dem Weg nach Qeshm in die Ferien war. Er konnte übersetzen und so erfuhren wir, dass der ältere Herr ein Zollbeamter war. Und da Qeshm eine Freihandelszone ist, werden die Pässe von Touristen kopiert und zudem müssen sie ein Formular ausfüllen. Wir beantworteten also alle Fragen nach den Namen unserer Väter, nach unseren Berufen, dem Grund, warum wir nach Qeshm wollten und einigem mehr. Der nette Übersetzer gab uns noch seine Telefonnummer, damit wir ihn um Hilfe bitten könnten bei zukünftigen Sprachbarrieren. Und dann durften wir endlich dem Mann auf dem Motorrad zu unserem Schlafplatz folgen.
Am Hafen war einiges los. Alle ca. 20 Minuten kam eine Fähre an und spukte ein paar Dutzend Autos mit Urlaubern aus, die dann in den fünf Läden am Hafen ihre Thermoskanne mit heissem Wasser auffüllten (schliesslich muss ein Iraner immer und überall Schwarztee trinken können) und sich mit Snacks für die lange Heimreise eindeckten. Unser Guide deutete auf den Gebetsraum inmitten der Läden, verabschiedete sich und düste davon. Ich fand die Aussicht auf eine Nacht im Gebetsraum völlig in Ordnung. Schliesslich hat es dort Teppiche und zwischen Sonnenunter- und aufgang wird nirmalerweise nicht gebetet. Ein Blick in den Gebetsraum zeigte aber, dass die Gebetszeit noch keineswegs um war. Wer vorher auf der Reise nicht dazugekommen war, kam jetzt hier her seine religiöse Pflicht zu verrichten. Es war zwar stockdunkel, aber erst kurz nach sechs Uhr. Wir richteten uns also auf einer Pritsche ein, kochten Spaghetti und erklärten immer wieder, woher wir kamen und was wir hier taten. Wir wussten nicht recht, ob wir noch jemanden um Erlaubnis fragen sollten, um im Gebetsraum zu schlafen. Allerdings wussten wir nicht, an wen wir uns wenden sollten. Englisch konnte sowieso niemand. Plötzlich tauchte aber wieder ein iranischer Urlauber auf, der in London lebte. Wir packten die Chance und fragten durch ihn den einen Ladenbesitzer. Und so erfuhren wir, dass sowieso alle wussten, dass wir da schlafen wollten und dass die Security, die in der Nacht patrouillierte, schon informiert war. Also mussten wir nur noch warten, bis niemand mehr beten wollte. Um 8.30 Uhr schlief ich bereits fast stehend und wir entschieden uns, uns im Gebetsraum für Frauen einzurichten. Wir hatten von anderen Radlern, die öfters in Moscheen für einen Schlafplatz fragten, gehört, dass ihnen immer der Frauenbereich zugewiesen wird. Wir nahmen alle unsere Taschen in den Raum mit und bereiteten Mätteli und Schlafsack auf dem Teppich aus. Nach küzester Zeit war ich eingeschlafen. Trotz des Rummels, der draussen herrschte. Und der wohl auch nicht massiv weniger werden würde. Ein Ladenbesitzer hatte erklärt «ferry no stop, shop no stop». Soviel zur ruhigen Strasse richtung Hafen am Abend.
Plötzlich – mein Natel zeigte halb zwölf – ging die kaputte Schiebetür zum Gebetsraum geräuschvoll auf. Eine alte Dame in Begleitung ihres Sohnes kam herein zum beten. Der Mann bedeutete uns, wir sollten ruhig weiterschlafen und wartete draussen auf seine Mutter. Roman ging trotzdem raus, schliesslich ist der Gebetsraum ja explizit für Frauen. Wir legten uns wieder hin und rechneten nun mit einem ruhigen Rest der Nacht. Allerdings wurde ich kurz darauf wieder geweckt. Zwei ältere Damen kamen schnatternd herein und machten das Licht an. Die eine breitete eine Decke auf dem Teppich aus und deckte sich mit einer zweiten zu. Die andere hockte sich hin und fing schmatzend und ihr Gebiss bewegend an, Brot zu essen. Eine der Frauen schaute Roman böse an und zeigte in die Richtung des Gebetsraumes für Männer. Ich sah mich gezwungen den friedlich schlafenden Roman zu wecken und ihm die Situation zu erklären. Er packte schlaftrunken seinen Schlafsack und ging um das Haus herum in den anderen Gebetsraum. Ich legte mich wieder hin und wollte schlafen, wurde aber von zwei nackten Glühbirnen und jeder Menge Fragen auf persisch daran gehindert. Ich antwortete mit «Suisse» und «Qeshm», da ich davon ausging, dass ich damit wenigstens zwei der Fragen beantworten konnte. Nach einer halben Stunde wurde das Licht gelöscht, die Damen rollten sich auf dem Teppich zusammen und schnarchten den Rest der Nacht. Irgendwann kamen noch zwei junge Frauen mit einem schreienden Kleinkind zum Gebet herein, doch sie schienen sich weder an mir noch an den beiden Frauen zu stören.
Um 5.30 Uhr begannen meine beiden Mitschläferinnen mehr oder weniger leise murmelnd ihr Morgengebet zu verrichten und um 5.50 Uhr kam wohl ein Bus an, denn plötzlich waren 14 betende Frauen im Raum. Ich versuchte möglichst schnell und möglichst diskret alle unsere Taschen nach draussen zu befördern und wartete vor den beladenen Velos auf Roman. Dieser kam denn auch kurze Zeit später und berichtete von ähnlichen Zuständen an seinem Schlafplatz. Auch er hatte vier Mitschläfer gehabt. Dank «shop no stop» gab es einen warmen Kaffee und Joghurt zu unserem Brot. Dann radelten wir zurück zum Ticketschalter.
Da nun ein anderer Zollbeamter Dienst tat, wurden wir aufgefordert, unsere Pässe auszuhändigen und das Formular, das wir schon kannten, auszufüllen. Wir versuchten erfolglos zu erklären, dass wir das ganze Prozedere am Vorabend schon einmal hinter uns gebracht hatten. Allerdings war uns nicht ganz klar, ob er tatsächlich nicht verstand, was wir meinten, oder ob er einfach das Formular vom Vorabend in seinem Papierwusch nicht mehr fand. Wir gaben auf und beanworteten brav noch einmal alle Fragen. Und dann konnten wir endlich ein Ticket für die Fähre kaufen. Was aber gar nicht nötig war. Nur Motorahrzeuge bezahlen für die Überfahrt. Wir hätten also auch direkt nach dem Kaffee auf die Fähre gehen können. Aber wo wäre da der Spass geblieben?