Batumi in Georgien – Anfang September 2018
Der Donner grollt in der Ferne, Wetterleuchten spiegelt sich in den Glasfassaden der Hoteltürme, die Masse wächst. Von allen Seiten tröpfeln Velofahrer dazu während es immer dunkler wird. Die LED-Lichtershow an den Hochhäusern leuchtet gegen die drohenden Gewitterwolken an, Windböen ziehen zwischen den Häusern durch. Die Masse kommt in Fahrt, nimmt Form an, Velo an Velo, Velo hinter Velo, auf den grossen Boulevard zu. An der Kreuzung wird es kritisch, genügt die Menge an gewitterresistenten Radlern um die kritische Masse zu erreichen?
Zwei Tage vorher – wir besuchen die Rooftop-Bar des Radisson Blu in Batumi. Als wir in Flipflops durch das eisgekühlte, gold-schwarze Foyer des Hotels flipfloppen und erfolglos versuchen nicht aufzufallen spricht uns ein kräftiger Typ in Shorts und T-Shirt an, ob wir in die Bar wollen. Hier ist der Lift, da der Knopf, ich komme doch schnell mit. Im 19. Stock dirigiert er uns an ein kleines Tischchen an der Fensterfront, unter uns liegt das schräge aber doch sympathische Batumi mit all seinen Hotelhochhäusern, Casinos, Leuchtreklamen, Rohbauten und Kränen, den holprigen Strassen und den unzähligen zusammengebastelten, erweiterten und umgebauten Wohnblöcken, Hinterhöfen, Balkonen und Terrassen, tausenden kleinen Geschäften und einer sieben Kilometer langen Strandpromenade mit Veloautobahn. Die Sonne hängt golden über dem Meer und wir frösteln in der klirrend kalten Polarluft aus der Klimaanlage. Die Schweissflecken vom tropischen Klima draussen gefrieren und wir bestellen Apero. Der Typ vom Lift gesellt sich zu uns, er ist der Bademeister vom Hotelpool und verbringt seine Zeit damit seine Muskeln in Form zu trainieren. Sympathisch, engagiert und motiviert erzählt er uns von Batumi und als er unsere Velogeschichte gehört hat, lädt er uns zur nächsten Critical Mass in zwei Tagen hier in Batumi ein.
Critical Mass ist eine Bewegung des Langsamverkehrs, verteilt über die verschiedensten Städte weltweit. Nicht wirklich organisiert aber doch mit einer gewissen Regelmässigkeit treffen sich so viele Velofahrer wie möglich, um dann gemeinsam während ein, zwei Stunden durch die Hauptstrassen der Stadt zu fahren und alleine durch die grosse Anzahl der Radler den Autoverkehr zur Rücksichtnahme zu zwingen und die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die Alternative «Langsamverkehr» zu lenken. Es steckt ein gewisses radikales Element in der kritischen Masse, denn normalerweise wird der Autoverkehr dabei blockiert und man kann sich im Schutz der Masse erlauben über die Fahrspuren einer Hauptverkehrsachse zu kurven und sich beim Abbiegen unabhängig der Regeln den Vortritt zu leisten. Allerdings werden die Ausflüge von den Autofahrern grösstenteils mit Wohlwollen betrachtet, denn meistens ist der Velospuk nach kurzer Zeit wieder vorbei.
Was für Velöler wären wir also wenn wir an diesem Anlass nicht teilnehmen würden! Darum ignorieren wir die Wetterprognose und das ständig näher rückende Grollen am Himmel und reihen uns in den chaotischen Haufen von Radlern ein, um Batumi aus einem etwas anderen Blickwinkel kennen zu lernen. Um uns herum schmirgeln die coolen Kids mit Vollbremsungen ihr Reifenprofil flach, wir sind die einzigen Bünzlis mit Velohelm. Dann kommt Bewegung in die Radlergruppe, man wälzt sich Richtung Boulevard. Sobald wir in Bewegung sind setzt ein Gebimmel und Geklingel ein, jeder malträtiert seine Hupe so laut und oft wie möglich, wahrscheinlich um den Donner zu übertönen. Es wird Nacht, und als wir über die erste Kreuzung auf die Hauptstrasse schwenken fallen die ersten Tropfen. Die Leute in den Bushäuschen schauen kritisch, dann setzt das Gebimmel ein und vereinzelt werden Handys gezückt und gefilmt. In der Zwischenzeit peitscht ein kalter Wind durch die Häuserschlucht und die Tropfen werden zu einer Dusche, es blitzt und donnert, und jede regengetränkte Böe provoziert eine akkustische Gegenreaktion der Radler. Wir pflügen durch’s Regenwasser, einmal quer durch die Stadt, eine Schlaufe durch die Hochhäuser, vorbei an farbig blinkenden Fassaden, und auf dem Rückweg zum Hauptplatz lässt der Regen nach. Das Gewitter hat die Masse nicht gebremst, eher die Bremsen ausser Kraft gesetzt, einige sind nicht ganz so sattelfest, doch haben wir die Runde ohne Zwischenfall hinter uns gebracht. Als sich die Radler zerstreuen gesellt sich der Bademeister zu uns, er organisiert die Events, fährt vorne mit, stoppt an den Kreuzungen den Querverkehr und macht auf seinem Rennrad einen sportlichen Eindruck. Normalerweise seien viel mehr Leute dabei, aber heute leider wegen dem Gewitter halt nur ein paar wenige. Wir hatten den Eindruck, dass die Gruppe ganz ordentlich gross war, aber für eine kritische Masse war’s vielleicht eher etwas knapp.