Iran – Ende Oktober
Der Schreck vom Felgenbruch sitzt uns noch im Äcke. Doch kein Grund zur Aufregung, Behzad hat sich dem Velo angenommen und wir können nur warten bis es wieder rollt.
Unser Organisationstalent und Retter Sina holt uns ab und wir verbringen zwei Nächte in Ahads Studiwohnung in Urmia. Dazwischen gibt es viel gutes Essen, mit dem Auto durch die City cruzen und in der Bude abhängen, rauchen und schnäpsle und sowieso alles, was im Iran verboten ist.
Sina wohnt bei den Eltern zu Hause, darum will er uns bei Ahad einquartieren. Ahad ist ein Freund vom Studium und Sina hat nur gemeint, die Wohnung sei halt etwas einfach, wir winken ab, alles kein Problem für uns. Es ist schon dunkel als uns Sina bei Behzad abholt, wir packen ein Minimum in sein Peugeot und steigen ein. Ab sofort gibt es rollende Planung und wir verabschieden uns innerlich von jeglicher geregelten Schlafenszeit oder bürgerlichen Zeiten zur Nahrungsaufnahme. Sina reiht sich in den abendlichen Stossverkehrswahnsinn ein. Die beste Taktik, um nicht ununterbrochen mit dem Fuss auf ein nicht vorhandenes Bremspedal zu treten ist, einfach nicht auf den Verkehr zu achten. Sina meint, da alles was Spass macht von der Obrigkeit verboten ist, machen sich die Iranis halt das Autofahren zum Spass. Mir kommt es vor, wie das Mario Autorennspiel. Wir durchqueren die ganze Stadt, Sina startet seine Playlist mit einem Mix aus klassisch westlichem Pop + Rock, französischen Singer/Songwritern, persischem Rap (natürlich verboten!) und anderem Orientalischem. Dazu diskutieren wir die allgemeine Lebenssituation im Iran, und auf der halbstündigen Autofahrt finden wir kaum etwas Positives, wir beginnen zu verstehen, wieso jeder auch nur die kleinste Gelegenheit packt um hier weg zu kommen.
Wir sind in einem Dorf ausserhalb der Stadt angekommen, wir merken nichts davon, ist eh dunkel. Sina führt uns zu einem Lokal, verglaste Einzelräume wie Gewächshäuschen, in einem sitzen seine Freunde Abbas, Perin und Ahad, in der Mitte eine Wasserpfeife, Tee und eine Gasflasche mit Heizstrahler. Der Raum ist verraucht und überheizt, wir reissen uns die Primalofts vom Leib und setzen uns im Schneidersitz in die fröhliche Runde. In der Gruppe sind auch zwei Frauen, und da sie mit keinem der anwesenden Jungs verheiratet sind, ist das ein weiterer Gesetzesverstoss. Die Kopftücher hängen ganz weit hinten, Perin hat türkisfarbene Strähnchen.
Wir diskutieren uns einmal durch die Standard-Themen: Arbeit, Ausbildung, Geld, Einkommen, Lebenskosten, Religion, Zukunftsaussichten, Ehe, Zusammenleben ohne Ehe, Kinder und vieles mehr. Keine Frage, unsere neuen Freunde aus Urmia sind nicht weltfremd oder naiv, selbstverständlich kennen sie den westlichen Lebensstil, sie leben ja selbst grundsätzlich gleich wie wir, haben dieselben Bedürfnisse und Wünsche wie wir. Sie sind alle gut ausgebildet, die Jungs haben alle einen Ingenieurstitel, Mechanik, Material, Elektro, alles vertreten. Auch sprechen sie alle mehr oder weniger Englisch, das meiste im Selbststudium gelernt da keiner einen Job hat. So besteht ihr Tagesprogramm aus Selbststudium und Weiterbildung, das allgemeine Ziel ist es, ein Stipendium an einer westlichen Universität zu erhalten um einen international anerkannten Master zu machen oder besser direkt eine Arbeitsstelle zu finden. Mit dem im Iran Ersparten kann man im Ausland keinen Tag überleben, die Währung ist im freien Fall, das Geld verliert jeden Tag an Wert, daher sind sie alle auf ein Stipendium angewiesen.
Es wird geraucht, dass einem Angst und Bang wird, wir können einander in dem Glaskasten kaum mehr sehen. Die Wasserpfeife blubbert, wir trinken übersüssten Tee und stellen einmal mehr fest, dass eigentlich alle Menschen ungefähr gleich sind. Wir kriegen langsam Hunger, der Zucker im Tee ersetzt kein Znacht. Also brechen wir auf, soweit wir verstehen gibts zu Hause zu essen.
Die Wohnung von Ahad ist ein grosses Wohnzimmer mit zwei Sofas, alles etwas heruntergekommen, daneben ein kleines Zimmer mit einem Bett, das obligate Steh-WC und eine Dusche, Ausbaustandard Kellerwohnung mit nackten Glühbirnen. Natürlich liegen überall Teppiche (ausser in der Küche und im Bad), die Schuhe bleiben draussen. Wir setzen uns auf den Boden und irgendjemand hat, glaub ich, Essen per Kurier bestellt. Wir trinken Tee, die anderen rauchen, natürlich im Wohnzimmer, keine Frage. Sobald wir unter uns sind, kommen die Kopftücher weg, Martina und Perin dürfen ihre Haare befreien.
Es gilt ein zweiseitiges Leben, eins in der Öffentlichkeit, eins im Privaten. Hinter verschlossener Türe ist alles möglich, es gibt keine religiösen Regeln oder Gesetze. Die islamische Republik endet an der Haustüre.
Bald gibts Essen, Reis mit irgendeiner Sosse aus Grünzeug und Fleisch, dazu Fanta. Wir sitzen am Boden im Kreis und essen, wahrscheinlich ist in der Zwischenzeit etwa Mitternacht. Später gehen Abbas, Perin und Sina nach Hause, Ahad verschwindet in sein Zimmer, um weiter an seiner Abschlussarbeit zu tüfteln, er muss noch etwas programmieren. Wie man hier im Rauch mit tränenden Augen arbeiten oder auch nur atmen kann ist mir schleierhaft. Wir breiten eine Decke auf dem Teppich aus, Martina holt dann doch ihr Mätteli. Mänu und ich versuchen es auf die harte Tour, ohne Matraze wie die meisten hier schlafen. Ich drehe den Gasofen zurück, der den ganzen Tag brennt. Decken braucht man eigentlich nicht, die einmal verglasten Fenster mit Metallrahmen halten zwar die Wärme überhaupt nicht drinnen oder die Kälte draussen, aber das Gas ist so billig, dass sich niemand ums Energiesparen kümmert.
Erschöpft von diesem ereignisreichen Tag schlafen wir trotz Rauch und hartem Boden sofort ein, kurz bevor wir schlafen schickt uns Behzad ein Video von den neu eingespeichten Rädern und kurz darauf ein weiteres wie er das Velo zu sich nach Hause spazieren fährt, notabene neben dem Auto, mit der Hand durchs Autofenster mitgeführt. Somit wäre also dieses Problem gelöst
Am nächsten Tag gibt es Sightseeing, Sina nimmt uns mit dem Auto in die Stadt zum Zmorge und zur Besichtigung eines eher nicht so spannenden Grabturms, allerdings ist das anscheinend die einzige Sehenswürdigkeit im Ort. Halb so wild, wir haben genug zu diskutieren. Weiter gehts zur Stadt raus, unterwegs laden wir Abbas auf. Sina will uns ein kleines Dorf zeigen, eine christliche Kommune, mit Kirche, mitten im islamischen Iran. Die Minderheit darf ihren Glauben ausüben, auch leben die Religionsgemeinschaften problemlos nebeneinander. Für gewisse Festlichkeiten brauchen die Christen natürlich ihren Wein, bei diesen Events sperrt die Polizei kurzerhand die Strassen rund ums Dorf damit die braven Muslime sicher nicht mit Alkohol in Versuchung geführt werden. Diese Massnahme könnten sie sich sparen wie wir später feststellen dürfen.
Nach einem Besuch bei Sinas Vater in seinem Schrebergarten wären wir eigentlich bereit fürs Zmittag weil in der Zwischenzeit ist es schon Nachmittag und wir haben noch viel vor! Abbas und Perin möchten noch aus der Stadt raus zum Fotografieren. In einem unbedachten Moment frage ich ob ich nicht mitgehen dürfe um sofort von meinem Gewissen gerügt zu werden. Martina meint die beiden möchten eventuell etwas Zeit zu zweit alleine, irgendwie hatten wir schon seit dem ersten Moment das Gefühl dass da was läuft zwischen den beiden. Aber kein Problem, im Gegenteil! Sie wären sehr froh wenn wir mit dabei sind, je mehr Leute desto besser, so können sie in der Öffentlichkeit Zeit zusammen verbringen ohne dass es allzu fest auffällt. Junge und Mädchen unverheiratet zusammen unterwegs ist ein weiteres Verbot, obwohl uns nicht ganz klar wird ob wirklich gesetzlich verboten oder gesellschaftlich geächtet. Egal, wir haben Hunger und steuern ein Restaurant an. Wir gehen mit Sina voraus, wir müssen die Lage checken und den Laden auf Ordnungshüter überprüfen bevor sich Abbas und Perin dazugesellen. Die warten in einen anderen Auto bis Sina die Lokalität als sicher freigibt. Wir bestellen «etwas kleines einfaches» und sind dann endlich ein erstes Mal mit klassisch iranischer Küche in Kontakt. Klein und einfach war wohl nichts, wir sind für den Rest des Tages mit Nahrung versorgt.
Das Nachmittags- und Abendprogramm ist dicht, der Fotoausflug wegen der schon untergegangen Sonne eher nicht so erfolgreich, aber wenn man erst um drei Uhr Zmittag isst und die Sonne um fünf untergeht, muss man sich wohl nicht wundern wenn es nicht für alles reicht. Also besorgen wir uns noch Süssigkeiten, die anscheinend typisch sind für diese Stadt und checken noch die Sport- und Outdoorläden in der naiven Vorstellung, Merinokleider zu finden. Martina braucht lange Unterhosen für die kalten Nächte, doch kann man das gleich vergessen, Sanktionen zwingen das Angebot in die chinesische Ecke der Welt, Marken und Qualität sind entsprechend unter dem Schweizer Schnitt.
Das Abendprogramm ist aufgegleist, irgendwann im Laufe des Nachmittags haben sich unsere Freunde abgesprochen und entschieden. Heute wird wieder mal was rechtes getrunken. Aber ist das nicht verboten? Aber natürlich. Aber kriegt man den überhaupt was? Aber natürlich! Wir graben nicht zu tief, mal schauen. Mir war schon klar, dass die Iranis kein abstinentes Leben führen. Unser letztes Bier ist nun auch schon etwas länger her, noch in Armenien, vor ein zwei Wochen. Na dann, zurück in die Studentenbude! Wir stoppen beim Supermarkt, wir treffen einen weiteren Freund von Sina und werden kurzerhand ihm übergeben, weil Sina noch zum Coiffeur muss. Um etwa acht Uhr abends. Er nimmt Mänu das Versprechen ab, dass dieser zurück in der WG die Kontrolle übers Trinken übernimmt und die anderen daran hindert, bis er dazustösst. Kein Problem für Mänu als ältestes Mitglied der Runde.
Zurück in der WG sind schon alle versammelt, das Znacht ist organisiert, fünf Säcke Chips sind die ideale Beilage zu einer 1.5 Liter PET-Flasche ohne Etikette. Der Beschaffungsprozess hat wohl Ähnlichkeit mit dem Vorgehen in unserer wilden Jugend, wenn man für den Freitagabendspass auf der Bundesterrasse mal etwas Grünes zum füürle organisierte. Irgendjemand kennt jemand, der hat einen Freund und der macht was selbst oder kann sich was Importiertes beschaffen. Man könnte skeptisch sein, keine zwei Wochen vorher habe ich einen Artikel über gewisse Wässerchen gelesen, da kamen im Iran um die zwanzig Leute um und ein noch grösserer Teil wurde blind. Sowas passiert, wenn man das Zeug verbietet und dann gepanschte Ware verhökert wird. Ich sehe das (noch!!) ganz entspannt, die klaren Wässerchen in PET-Flaschen begleiten uns seit dem Balkan und auch quer druch die Türkei.
Sina ist ewig beim Coiffeur, wir trödeln auf dem Teppich rum, es wird geraucht, der erste Gang wird serviert: Erdnuss-Flips. Perin zeigt uns ihre Fotos, sie macht das professionel neben der Arbeit. Sie ist eine von vielen Frauen hier, die weiss, was sie will und sich selbständig macht, trotz aller Einschränkungen und dem sozialen Druck der älteren Generation.
Es ist jetzt schon etwa seit vier Stunden dunkel, Martina schläft schon fast im Sitzen ein, die Rauchdecke hängt immer tiefer, dann endlich taucht Sina auf, grosses Hallo, er dankt Mänu erleichtert, dass dieser die Kontrolle über die Flasche nicht verloren hat und das Trinkverbot bis hierhin eingehalten wurde. Es kommt noch eine Flasche Sirup dazu, wir setzen uns andächtig um die PET-Flasche, es werden Shotgläser verteilt, der zweite Gang wird serviert: Chips mit gewellter Oberfläche. Die Gläser werden ein erstes Mal gefüllt, der Sirup muss schliesslich mit der klaren Flüssigkeit verdünnt werden. Mänu fachsimpelt über Grundlage und Herstellung des Wässerchens, scheinbar Trauben, aber egal, es geht doch um die Prozent, das Aroma kommt vom Sirup. Der nach Altersjahren erfahrenste Trinker lässt den Sirup weg, und nach dem chaotischen Anstossen stellt er begeistert fest, die Italiener würden das nicht verachten! Wir verachten es auch nicht, Runde um Runde, schon bald wird der dritte Gang serviert: Sticks mit Paprika-Käse-Geschmack. Es ist wie vor zehn Jahren, ob Schweiz oder Iran, die jungen Studis sind doch überall gleich!
Es ist schon spät, wir wollen morgen früh weiter nach Oshnavieh, dort erwartet uns Basir. Martina ist schon fast im Überlebensmodus, das Schreckensgespenst der zu kurzen Nacht geht um! Wir sind am Punkt angelangt, wo Perin und Abbas zur Rede gestellt werden; was läuft da? Ist da was? Süss wie die beiden dann der Runde gestehen dass sie ein Paar sind. Wir sind nicht erstaunt, vom ersten Moment an war klar dass da was läuft! Aber ihren Freunden gegenüber haben sie wohl noch nicht mit offenen Karten gespielt. Ich mache mir Sorgen um meine Sehfähigkeiten, erste Anzeichen von Blindheit, hoffentlich nicht bedingt durch das Gesöff! Aber warscheinlich liegts am Zigirauch. Es ist nach Mitternacht, die Runde löst sich auf. Sina, Perin und Abbas schlafen heute in der WG, die anderen gehen nach Hause, wir breiten unsere Decken aus. Zum Glück schläft man hier am Boden, da ist der Qualm etwas dünner und die kalte Nachtluft strömt aus den den winzigen Fensterchen unter die warme Luft.
Wir sind schon fast am pennen, da brechen Sina, Abbas uns Perin wieder auf, Sina hat eben herausgefunden, dass seine Freundin heute Geburtstag hat. Kann passieren, dass man was vergisst wenn man den ganzen Tag Touristen betreut. Er besteht drauf, uns am nächsten Morgen zu Behzad und unseren Velos zu bringen, um acht solls losgehen, Zmorge gibts unterwegs. Wir schlafen erschöpft und mit schwerem Kopf ein, unsere jungen Freunde starten in die spontane Partynacht. Als sie ein paar Stunden später zurück kommen, erwache ich nur kurz, dann klingelt auch schon der Wecker und es bricht ein weiterer Tag auf dem Velo an.